Während die Kirchenmitgliedschaften schwinden, floriert das spirituelle Leben. Warum der Niedergang der Kirche nicht das Ende des Religiösen bedeutet.
Die Kirchen, einst feste Säulen der Gesellschaft, verlieren Mitglieder und ihren einstigen Einfluss. Dies mag den Anschein erwecken, dass religiöses Interesse schwindet. Doch dieser Gedanke ist trügerisch. Kirchliche Mitgliedschaften, Gottesdienstbesuche und Gebete mögen abnehmen, aber die Welt des Religiösen ist vielschichtiger als sie auf den ersten Blick erscheint.
In der Welt der Religionssoziologie gibt es zwei Hauptlager. Das erste folgt der Säkularisierungstheorie und sieht die Religiosität hauptsächlich durch religiöse Institutionen vermittelt. Hier spielt die religiöse Erziehung eine zentrale Rolle, in der Eltern ihren Kindern den Glauben näherbringen. Wenn jedoch diese traditionelle Bindung zur Kirche verschwindet, scheint es, als würde die religiöse Praxis erlöschen.
Demgegenüber postuliert das Individualisierungsparadigma, dass religiöse Erfahrungen in der menschlichen Natur selbst verwurzelt sind. Diese Erfahrungen treten unabhängig von der religiösen Sozialisation auf und führen zu einer individuellen, existenziellen Auseinandersetzung mit dem Religiösen. Die Formen der Religiosität mögen sich ändern, aber die Religiosität selbst bleibt bestehen.
Die Untersuchungsmethoden dieser beiden Ansätze variieren erheblich. Während Individualisierungsforscher qualitative Methoden anwenden und eine Fülle von religiösen Phänomenen entdecken, verwenden Säkularisierungsforscher quantitative Methoden und messen Mitgliedschaft und Gottesdienstbesuche. Bedauerlicherweise vernachlässigen sie oft die tiefgreifenden religiösen Erfahrungen und die intellektuelle Auseinandersetzung mit spirituellen Fragen.
Eine religiöse Erfahrung bezieht sich auf Momente, in denen Menschen eine übernatürliche Wirklichkeit erfahren. Dies kann ein mystisches Gefühl der Einheit mit dem Universum sein oder das Spüren der Anwesenheit geliebter, aber abwesender Menschen. Solche Erfahrungen sind persönlich und schwer quantifizierbar.
Der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung ist eine der wenigen Studien, die explizit nach solchen Erfahrungen fragt. In den Jahren 2007 und 2017 wurde die Häufigkeit des Gebets und religiöser Erfahrungen in der Schweiz untersucht. Die Ergebnisse waren überraschend: Während das Gebet abnahm, nahm die Häufigkeit religiöser Erfahrungen zu. Dieses Muster wiederholte sich in Deutschland, Österreich und Frankreich. Religiöse Erfahrungen scheinen unabhängig von der Kirchlichkeit zu florieren.
Das Narrativ vom Niedergang der Kirche ist irreführend. Die Veränderung der religiösen Landschaft erfordert eine Anpassung der religiösen Ausbildung. Pfarrer und Geistliche sollten nicht nur Texte interpretieren, sondern auch die Menschen verstehen können. Dies erfordert tiefgreifende Kenntnisse in der psychologischen und soziologischen Religionsforschung. Kirchen sollten Räume schaffen, in denen die Menschen ihre Religiosität in ihren individuellen Glaubenswelten ausleben können. Denn trotz des Wandels bleibt die Religiosität tief in der menschlichen Natur verwurzelt.