Zwischen Christianisierung und folkloristischen Traditionen
Die germanischen Stämme Mitteleuropas konvertierten zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert zum Christentum. Dennoch überlebten Elemente der alten Mythologie durch das Mittelalter hindurch in Form von Legenden, Abenteuern und epischen Erzählungen. Diese Fragmente finden sich unter anderem in historischen Berichten über die verschiedenen Stämme.
Fragmentarische Quellen und heidnische Relikte
Die schriftlichen Quellen über die frühen spirituellen Praktiken in Mitteleuropa, insbesondere der altnordischen und angelsächsischen Religion, sind äußerst fragmentarisch. Ein Beispiel ist der Merseburger Zauberspruch, der einzige vorchristliche Text in Althochdeutsch, welcher die Gottheiten Fulla, Wodan und Frigg erwähnt. In anderen Texten, darunter Chroniken und historische Darstellungen, finden sich Hinweise auf die heidnische Religion. So berichtet etwa die Annales regni Francorum von der Zerstörung der Irminsul durch Karl den Großen oder die Erfindung des Weihnachtsbaums durch den Heiligen Bonifatius.
Fortleben in der Folklore
Während das Heidentum durch das Christentum marginalisiert wurde, überlebten die Teile der vorchristlichen Religion in der Folklore der ländlichen Bevölkerung. Germanische Mythologie fand somit in Märchen ihren Fortbestand, die von den Brüdern Grimm gesammelt und veröffentlicht wurden.
Die Bedeutung der Runen
Ein bedeutender römischer Beitrag zur germanischen Kultur war die Schrift. Ab etwa 200 n. Chr. tauchten Runeninschriften in Südskandinavien auf und bestanden bis etwa 1300. Der Ursprung dieser besonderen germanischen Schrift kann auf das stark römisch beeinflusste Machtzentrum in Stevns, Süddänemark, zurückgeführt werden. Die Forscher diskutierten lange, ob die Runen nur religiöse Bedeutung hatten oder auch für alltägliches Schreiben verwendet wurden. Heute glauben die meisten Gelehrten, dass die Schrift nicht so lange überlebt hätte, wenn sie ausschließlich in speziellen rituellen Kontexten genutzt worden wäre.
Magische und religiöse Kontexte der Runen
Die Runen wurden häufig für religiöse Zwecke verwendet. Innerhalb des Runenmagiesystems hatte jedes Runenzeichen eine besondere Bedeutung, und das vollständige Niederschreiben der gesamten Alphabetreihe—das Futhark—fungierte als magische Formel. Auch in anderen Kontexten wurde der geschriebene Runentext für Zaubersprüche auf Waffen und persönlichen Gegenständen verwendet.
Vermischung von heidnischen und christlichen Elementen
Ein weiteres Zeugnis für den religiösen Kontext der Runen und deren Bedeutung findet sich im altsächsischen Epos Heliand, das in althochdeutschen Versen aus dem neunten Jahrhundert verfasst wurde. Hierbei werden weltliche und heidnische Phrasen verwendet, um die Evangeliengeschichte zu erzählen. Eine bemerkenswerte Zeile lautet “gerihti us that geruni” (“offenbare uns die Runen”), was eine Vermischung der christlichen Idee “Herr, lehre uns beten” mit alten heidnischen Praktiken zeigt. Frühe Missionare des christlichen Glaubens mussten vertraute volkstümliche Äquivalente verwenden, um christliche Konzepte ihren heidnischen Brüdern zu vermitteln.
Ein rätselhafter Mix aus den alten germanischen heidnischen, römischen und christlichen Ideen zeigt sich auch auf der angelsächsischen Truhe, bekannt als Franks Casket, die eine Mischung aus Runen und römischen Alphabeten enthält.
Die germanische Mythologie und die Verwendung von Runen sind faszinierende Relikte, die bis heute in der modernen Kultur überlebt haben. Diese Elemente, die in historischen Texten, folkloristischen Erzählungen und archäologischen Funden erhalten geblieben sind, bieten einen einzigartigen Einblick in die geistige Welt unserer Vorfahren.